Steilshooper Mythen oder wie funktioniert ein Stereotyp? [Teil 4]

Vor rund 10 Jahren habe ich den folgenden Text als Vortrag im AGDAZ gehalten. Nach Teil 1 und Teil 2 sowie Teil 3 folgt heute der 4. und letzte Teil.

Da Steilshoop schon in einer frühen Phase als sozialer Brennpunkt 1 beschrieben wurde, und dieser Ausdruck durchgehend als Stereotyp für die Großsiedlung im Allgemeinen und Steishoop im Besonderen verwandt wurde, heftete man auch gleichzeitig den Bewohnern ein Stigma an, mit dem sie bis auf den heutigen Tag leben müssen.

Stereotyp ist nicht ganz einfach zu definieren, weil psychologische Aspekte eine wichtigere Rolle als sprachlich-rhetorische spielen.

Aus der Druckersprache 2 entlehnt bezeichnet Stereotyp im engeren Sinne die Vervielfältigung eines Schriftsatzes als Druckvorlage, damit er für spätere Auflagen zur Verfügung steht. Metaphorisch für die Beschreibung des Dialoges zwischen sozialen Gebilden verwandt benennt Stereotyp ein feststehendes Urteil der einen Gemeinschaft über eine andere oder über Individuen der selben sowie als Autostereotyp über die eigene Gemeinschaft. Die Sprachwissenschaftlerin Uta Quasthoff muss in ihrer Definition des Stereotyps auch auf psychologische Begriffe zurückgreifen: „Das Stereotyp ist der verbale Ausdruck einer auf soziale Gruppen oder einzelne Personen als deren Mitglieder gerichteten Überzeugung. Es hat die logische Form eines Urteils, das in ungerechtfertigt vereinfachender und generalisierender Weise, mit emotional-wertender Tendenz, einer Klasse von Personen bestimmte Eigenschaften oder Verhaltensweisen zu- oder abspricht.“3 Im Sprachgebrauch wird meist das Individuum bezeichnet, um dessen vorgebliche Eigenschaften auf das ganze Volk oder den Bevölkerungsteil zu übertragen: Der Russe ist trunksüchtig, der Franzose leichtsinnig, der Italiener feige und der Pole ein Dieb. An den Beispielen wird recht deutlich, dass sie in der Regel abwertend gemeint sind, um über die negative Qualifizierung des jeweils anderen eine positive Identifizierung der eigenen Gemeinschaft herauszustellen. Einige dieser Vorurteile – nichts anderes verbirgt sich hinter der Metapher Stereotyp – können auf sehr lange Traditionen zurückblicken 4, während andere erst politische Erfahrungen aus jüngerer Zeit verarbeiten. Galten Muslime im allgemeinen und Araber im besonderen noch während der Aufklärung als der Inbegriff der religiösen Toleranz, so hat sich das Bild mit dem Auftreten eines islamischen Fundamentalismus fast in sein Gegenteil verkehrt, so dass oft ohne Widerspruch die Aussage getätigt wird, der Araber neige zum Glaubensfanatismus.

Die Duldsamkeit der politischen Kaste gegenüber derartigen Stereotypen richtet sich nach den konkreten politischen Interessen. Gefördert wird ein derartiges schiefes oder verkürztes Bild in der Regel dann, wenn es der Durchsetzung einer bestimmten Politik nützlich erscheint, oder zumindest hält sich in einer derartigen Situation der Widerstand dagegen in Grenzen. Für ein „Volk der Dichter und Denker“ ist es schon fast eine moralische Verpflichtung, eine syphilisverseuchte Nation, wie es Frankreich bekanntlich ist 5, zu bekriegen 6. Gegen „Schurkenstaaten“, die gemeinsam eine “Achse des Bösen” bilden, ist die zivilisierte Welt aufgerufen, ihr militärisches und ökonomisches Potential zum Einsatz zu bringen. Für den konkreten Einsatz eines solchen Bildes ist es wichtig, dass auch der klassenspezifische Hass vieler Bevölkerungsgruppen unter ihm subsumiert werden kann. Der Begriff der britischen „Krämernation“, ein Schlagwort unter dem deutscherseits der erste Weltkrieg propagandistisch vorbereitet wurde, stellte sowohl den Neid des Bürgertums auf die ökonomischen Erfolge Großbritanniens im 19. Jahrhundert als auch die Wut der Arbeiter auf die fortgeschrittenen kapitalistischen Verhältnisse des Vereinigten Königreiches unter einen gemeinsamen und kurzen Nenner. Die altbekannte Tatsache, dass nichts so sehr eint wie ein gemeinsamer Feind, findet ihren treffendsten Ausdruck im Stereotyp.

Vorurteile können mobilisiert werden, wenn es um Schuldzuweisungen für eine verfahrene politische Situation geht. Grauenhaftestes Beispiel ist der jahrhundertealte Antisemitismus, der unter den Nationalsozialisten seinen schrecklichen Höhepunkt erlebte. Plakate, die einen Juden darstellten mit der Unterschrift “Der hat Schuld” (und zwar an allem), konnten auf eine breite Zustimmung der Bevölkerung hoffen, weil man das ja eigentlich schon immer wußte. Wenn ein Hamburger Innensenator feststellt, dass die “Ausländer unseren Wohlstand verfrühstücken”, bedient er sich eines – wie er hofft – bei vielen Deutschen fest verankerten Stereotyps, um vom Versagen der eigenen Politik abzulenken.

Unbestritten in der Literatur ist die Tatsache, dass mittels eines Stereotypes ein Ausbeutungsmechanismus festgeschrieben werden kann. Es gilt immer noch die mehr als 40 Jahre alte Feststellung von Alexander und Margarete Mitscherlich, „dass die Ausbeutung von Menschen vornehmlich mit Hilfe von Vorurteilen bewerkstelligt wird. Das beginnt in der klassischen Situation sozialer Ungleichheit der Erziehung. In ihr werden zur Formung des jungen Menschen nach dem Vorbild sozialer Rollenmuster einzelne auf verschiedene Weise miteinander verknüpfte Vorurteile übermittelt. Mit ihrer Übernahme vollzieht sich ein wichtiger Anpassungsschritt des Neulings, aber zugleich wird damit ein bestehendes Herrschaftsverhältnis stabilisiert. “Ausbeutung” – das Wort ist absichtlich zur Kennzeichnung des Geschehens gewählt – meint eine Machtherrschaft des Stärkeren über den Schwächeren, in welcher der Stärkere dem Schwächeren nicht erlauben will, den Herrschaftsanspruch in Frage zu stellen“7.

Hinweise, welch dramatisches Problem dieses Faktum für eine Siedlung vom Schlage Steilshoop sein kann, liefert eine infas-Untersuchung aus dem Jahre 1988 8. Für das Jahr der Umfrage stellen die Autoren im Vergleich mit Osdorfer Born, Mümmelmannsberg und Kirchdorf-Süd fest, dass die Siedlung weitgehend “über den Berg” sei 9. Es gibt allerdings einen einzigen Negativfaktor: Das Image ist so schlecht, wie man es sich überhaupt nur vorstellen kann. 10 Obwohl Steilshoop im Vergleich mit den drei anderen Hamburger Anlagen in nahezu allen Bereichen – sowohl von den Experten 11 als auch den Bewohnern selbst – als am geringsten problembelastet eingestuft wird, werden die offensichtlichen Vorzüge nicht wahrgenommen und sogar in ihr Gegenteil verkehrt. Besonders interessant ist, dass die Steilshooper ihr Ansehen ausgesprochen realistisch einschätzen. Immerhin 17% der hiesigen Bevölkerung leiden unter dem Image und haben das Gefühl, dass sich ihre Situation seit dem Zuzug nach Steilshoop deutlich verschlechtert hat 12. Auf die Frage nach der Beurteilung der Siedlung insgesamt durch die Bewohner erreichte Steilshoop auf einer Skala von 1 bis 7 immerhin den Wert 4,4 13 (Osdorfer Born 3,9, Mümmelmannsberg 3,8, Kirchdorf-Süd 3,8), während man vermutete, dass die Hamburger insgesamt Steilshoop nur beim Wert 2,2 einstufen würden. Tatsächlich landete Steilshoop beim Wert 2,1.

Unter dieser Prämisse hat selbst das „perverse Lila“, laut BILD die Farbgebung der „blauen Kachel“14, seinen Sinn. Das lila Tuch wurde in den späteren siebziger Jahren nicht nur von der kirchlich orientierten Friedensbewegung getragen. In Steilshoop konzentrierte sich aber die Friedensbewegung um die evangelische Gemeinde, wie noch heute die zahlreichen Schilder, welche die “Blaue Kachel” zur atomwaffenfreien Zone erklären, beweisen. Indem nun die symbolische Farbe der Friedensbewegung als Krankheitsursache aufgrund ihrer Perversität diffamiert wird, soll auch die Friedensbewegung und überhaupt das gesamte progressive Steilshooper Spektrum als pervers und krank diffamiert werden.

Ende

1 Dieser Begriff kann anders als viele Stereotypen, die verwendet werden, nicht auf ein ehrwürdiges Alter zurückblicken. Erstmalig 1979 vom deutschen Städtetag (Deutscher Städtetag (Hg.): Hinweise zur Arbeit in sozialen Brennpunkten. Reihe D: DST-Beiträge zur Sozialpolitik, H. 10, 1979) verwandt, suggeriert das Bild die Notwendigkeit einer Feuerwehrpolitik mit ihren wenig subtilen Mitteln.

2 Unter Stereos versteht man Abformungen von Originaldruckplatten. Die Stereotypie ist das Verfahren der Abformung. Im 16. Jahrhundert hat man schon im Sandgußverfahren Kopien von Holzschnitten hergestellt. Unter Stereotypie im engeren Sinne versteht man jedoch die Vervielfältigung des Schriftsatzes, damit er für spätere Auflagen zur Verfügung steht. Als Erfinder gilt der schottische Goldschmied William Ged, der 1729 die ersten Stereos mit Gipsmatern hergestellt hat. Vgl. W.Rauchfuß u.a.: Stereotypie und Galvanoplastik. Leipzig 1957

3 Quasthoff, Uta: Soziales Vorurteil und Kommunikation. Eine sprachwissenschaftliche Analyse des Stereotyps. Ein interdisziplinärer Versuch im Bereich von Linguistik, Sozialwissenschaft und Psychologie. Frankfurt/M. 1973, S. 28 und S. 167

4 So kommt der Begriff des “perfiden Albions” (“perfidia Anglica”) schon während der Kreuzzüge auf. Vgl. Schmugge, L.: Über “nationale” Vorurteile im Mittelalter. In: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 38, 1982, S. 439-459

5 Als 1802 die Prostitution in Hamburg überhand nahm, wurden dafür die französischen Emigranten, die “höfischen Lüstlinge” verantwortlich gemacht. Vgl.: Klessmann, Eckart: Geschichte der Stadt Hamburg. Hamburg 1981. 7. erw. u. akt. Neuaufl. Hamburg 1994, S. 512

6 Ernst Moritz Arndt benötigt in seinem berüchtigten Gedicht “Was ist des Deutschen Vaterland?” auch keine Begründung mehr, warum jeder Franzose automatisch Feind des Deutschen ist: “Das ist des Deutschen Vaterland, / Wo Zorn vertilgt den welschen Tand, / Wo jeder Franzmann heißet Feind, / Wo jeder Deutsche heißet Freund, / Da soll es sein.”

7 Mitscherlich, Alexander / Mitscherlich, Margarete: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen des kollektiven Verhaltens. München 1967, S. 140

8 infas – Institut für angewandte Sozialwissenschaft: Vergleichende Untersuchung von vier Hamburger Großsiedlungen. Bewertung von Mängeln und Maßnahmen durch Experten und Bewohner in den Großsiedlungen Osdorfer Born, Steilshoop, Mümmelmannsberg und Kirchdorf-Süd. Im Auftrage der Baubehörde bearb. v. Wolfgang Hartenstein u.a.. Bonn-Bad Godesberg 1990

9 Ebd. S. 111

10 Ebd.

11 Erheblich Unterschiede in der Beurteilung gibt es allerdings zwischen siedlungsübergreifenden Experten (Vertretern der SAGA und der Bezirksämter) sowie den Vertretern vor Ort: “Der besondere Charakter der Expertenaussagen wird deutlich am Beispiel von Steilshoop: Im Gegensatz zum Meinungsbild der übrigen Befragtengruppen wird für Steilshoop die größte Zahl von Problembereichen (und von bisherigen Nachbesserungsmaßnahmen) benannt; die “Häufung allgemeiner Strukturprobleme” in der eigenen Siedlung wird nochmals hervorgehoben. Darüber hinaus ist das Problemspektrum von Verkehrsanbindung und Warenangebot über Einkommens- und Arbeitsplatzprobleme bis zu psychischen Störungen und Suchtphänomenen besonders breit angelegt. Zusätzlich zur Problemlage selbst unterscheidet sich also offenbar die Sensibilität der jeweiligen Experten in der Problemwahrnehmung” (ebd., S. 101).

12 Ebd., Tabelle 4.4, S. 57

13 Ebd., Tabelle 3.1, S. 29

14 s.o., S. 3 und Anm. 6

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