Steilshooper Mythen oder wie funktioniert ein Stereotyp? [Teil 3]

Vor rund 10 Jahren habe ich den folgenden Text als Vortrag im AGDAZ gehalten. Nach Teil 1 und Teil 2 folgt heute der 3. Teil.

Die gleiche Tendenz, nur etwas direkter und nicht ganz so hinterfotzig ein sechs Jahre jüngerer Artikel aus dem gleichen Blatt. Es geht um die Ghetto Rockaz, die tatsächlich in den neunziger Jahren eine ausgesprochen unerfreuliche Erscheinung im Stadtteil waren. Die Definition der Gang nach BILD: „Das ist eine Bande von 40, 50 Jungen. Diese 13 bis 21jährigen Türken, Afrikaner und Osteuropäer sind ja stadtbekannt durch ihre Gewalt. Sie treffen sich jeden Tag am Haus der Jugend.“1 Zwei auch aus dem anderen BILD-Text bekannte Gegner werden auf einmal abgefrühstückt. Ausländer und die öffentliche Institution Haus der Jugend. Wie beim „Abendblatt“ auch wird eine Unmasse von Zeugen benannt und so der Eindruck einer seriösen Recherche vermittelt. Die Namen der Gewährsleute verdeutlichen, dass es sich um einen Krieg der Nationalitäten oder gar Rassen handeln soll: Jan, Jens, Norbert, Susanne, Martin, Andreas, Bernd … vertreten das Ariertum, während der einzige namentlich genannte Gegner einen türkischen Namen trägt. Auch in diesem Opus gibt es das Element, das jeden modernen Krieg kennzeichnet: Flucht und Vertreibung: „Für uns steht fest, daß wir hier so schnell wie möglich wieder wegziehen!“

Während die meisten der hier vorgestellten Kriegsberichte eher eine ideologische Abrechnung mit der Moderne sind, gibt es auch Artikel, die sehr unmittelbar in das politische Geschehen eingreifen. Der BILD-Zeitungs-Artikel 2 von Doris Brückner aus dem Jahr 2001 ist ein Vorglüher für die heiße Phase des Wahlkampfes im Herbst des gleichen Jahres. Die örtliche CDU, deren exponiertester Vertreter in dem Artikel zitiert und abgebildet ist, holte damals zu ihrem letzten und entscheidenden Schlag gegen die Gesamtschule aus. Sie trat mit der scheinheiligen Forderung der Umwandlung der integrierten in eine kooperative Gesamtschule an. Die BILD-Zeitung mit ihrem großen Herzen für das Warme und Anheimelnde zeichnet schon in der Einleitung ein Bild der Schule, das auch für die Anlage in Stuttgart-Stammheim gebraucht werden könnte: „Kalte Kamera-Augen starren von den Dächern, grelle Scheinwerfer leuchten nachts Gelände und Parkplätze aus, Bewegungsmelder sichern die Flure – das Gebäude am Gropiusring wirkt wie der Hochsicherheitstrakt eines Gefängnisses. Aber es ist nur eine Schule.“ Es folgen die üblichen Berichte aus dem Bürgerkriegsgebiet. – und in einem Krieg werden nun einmal militärische Instrumente eingesetzt, im konkreten Fall der „NATO-Draht“. Zwar hält er die „Chaoten“ auch nicht ab, aber es gibt wenigstens einen Aufrechten, der sich mutig der Anarchie entgegen stellt. Das Ortsausschussmitglied Klas-Hendrik Poppe mit seinen Ambitionen auf die Bezirksversammlung ist ein wohltuender Gegensatz zu dem Schulleiter Dieter Maibaum, dem anscheinend nichts anderes eingefallen ist, als das Elend zu relativieren und einen Arbeitskreis gegründet hat, anstatt sich mannhaft in die Schlacht zu werfen. Poppe wagt sich jedoch ausweislich der Photographie in das Zentrum der Schlacht und ihm sei Dank darf der Steilshooper Bürger wieder hoffen, vorausgesetzt er folgt dem einige Tage später nachgereichten Patentrezept und wählt ihn, auf dass die integrierte Gesamtschule in eine kooperative umgewandelt wird – oder besser noch, dass sie ganz dicht gemacht wird, wie es dann ja auch tatsächlich geschehen ist.

Jedes Mal, wenn eine unserer glorreichen Gazetten einen derartigen Bericht gebracht hat, lief eine Welle der Empörung durch den Stadtteil. Jedes Mal hagelte es Leserbriefe und nahezu jedes Mal zeigten sich Redakteure oder Herausgeber betroffen. So könnte man eigentlich die Hoffnung aussprechen, dass nach fast vierzig Jahren Verleumdung und Diskriminierung „Abendblatt“ & Co. aktive Buße leisten und von nun ab nur noch abgewogene und sorgfältig recherchierte Artikel liefern würden. Dass dem nicht so ist, hat uns vor wenigen Tagen die „Hamburger Morgenpost“ gezeigt. Schon die Überschriften sind ein Hammer. Das Blatt stellt anlässlich des anlaufenden Films „Chiko“, der angeblich den Steilshooper Gangster-Alltag zeige, die Frage „Wie lebt es sich so im Ghetto?“3 Eigentlich ist die Wiedergabe des Artikels nach dem bisher Gesagten so ziemlich das Langweiligste, was man sich vorstellen kann. Ich folge hier eher unwillig einer Chronistenpflicht. Es gibt, sieht man einmal vom Einleitungssatz ab, keinen einzigen Gedanken, kein einziges Sprachbild, das wirklich neu ist. Schon in der zweiten Überschrift haben wir die „tristen grauen Hochhäuser“, im Text die „Hochhausschluchten“, die nächste Fettdruckzeile betont die Normalität von „Drogengeschäften und Schlägereien“, wie sie weiland schon von unser aller Freundin Jasmin konstatiert worden ist, wobei die amtierenden Jasmins Yilmaz, Tayfun und Deniz heißen. Neu, und das mag mit der Promotion des Films zusammen hängen, ist die Perspektivlosigkeit, die hier sehr breit dargestellt ist. „Wer aus Steilshoop kommt, der hat eigentlich schon verloren.“

Die parteiische und unseriöse Berichterstattung der Hamburger Zeitungen hat schon früh zu Konfrontationen geführt, die einen ernsthaften Dialog über die Probleme des Stadtteils auf der Basis des statistischen Materials und der Erfahrungen der zuständigen Stellen stark erschwert haben. Uwe Meier weist in seiner Dissertation über die Kriminalität in Steilshoop darauf hin, dass das Ortsamt Bramfeld die Erfahrung gemacht habe, „dass vor allem Teile der Presse es bewusst darauf anlegten, mit Hilfe der vom Ortsamt gewährten Einblicke in Unterlagen die Siedlung und ihre Bewohner in Misskredit zu bringen“4. Der Radaujournalismus einer Saskia Tants, die Pseudowissenschaftlichkeit eines Peter Strucks und die Betroffenheitsmasche einer Julia Weirauch dienen zwei Zielen: Im Vordergrund steht natürlich die Auflagensteigerung des Blattes, dessen Leser gerne Schauergeschichten lesen. Dahinter jedoch verbirgt sich eine politische Absicht, die sich mit der konservativen Ausrichtung des Springer-Konzerns deckt: Steilshoop und andere Großsiedlungen verstoßen gegen die reine Lehre der Marktwirtschaft, indem große Teile der Wohnungsbewirtschaftung dem freien Spiel der Kräfte des Marktes entzogen werden. Um jedoch weiterhin den privaten Immobilienbesitzern das Feld der Vermietung zu überlassen, ist es notwendig, alles, was mit dem sozialen Wohnungsbau zusammenhängt zu verhindern und, wo dieses nicht möglich ist, zu diskreditieren. Mit einer gezielten Propaganda werden Großsiedlungen als Brutstätten des Verbrechens dargestellt, in die dann law-and-order-Politiker ihre Eier legen können. Obwohl etwa die Schill-Partei kaum einen wirklichen Wahlkampf in Steilshoop geführt hat, konnte sie bei den Bürgerschaftswahlen 2001 fast ein Viertel der Stimmen für sich verbuchen 5. Die Presseberichte des Abendblatts werden von den Parteien des rechten Spektrums zum Teil ungeprüft, zum Teil wissend um ihren manipulativen Charakter als Grundlagen von Anträgen an die Bürgerschaft genommen 6, nur um von den tatsächlichen Problemen der Großsiedlung abzulenken und in populistischer Manier die erzeugten Ängste nicht nur der Bewohner der Trabantenstädte selbst, sondern auch die der anderen Viertel vor dem vorgeblich kriminellen Potential der Nachbarschaft auszubeuten.

Ob und wie weit die Bewohner eines Neubaugebietes innerhalb einer städtischen Gemeinschaft stigmatisiert sind, bedarf einer eingehenden Untersuchung. Mir ist es allerdings wichtig zu betonen, dass ich zwar Begrifflichkeiten verwende, die von zum Beispiel Magarete und Alexander Mitscherlich erarbeitet wurden, um das Phänomen des Holocausts zu erklären, dass ich aber nicht im Ansatz die Absicht habe, die Situation der Bewohnerschaft einer Großsiedlung mit der der Juden unter der Diktatur der Nazis zu vergleichen. Das käme einer Relativierung des Faschismus gleich, weil die Dimension der Verbrechen dadurch mit vergleichsweise harmlosen Verleumdungen gleichgesetzt wird.

Fortsetzung Teil 4

1 Prawitz, Bernd: Jugend-Terror in Steilshoop. Wir trauen uns nicht mehr auf die Straße. In: “Bild”-Hamburg 6.9.1998

2 Brückner, Doris: Und hier muss sich eine Schule vor Schmirfinken schützen. In: “Bild” Hamburg 1.4.2001

Steinhoff, Malte: Wie lebt es sich so im Ghetto? Hamburger Morgenpost, 13. April 2008, S. 12/13

4 Meier, Uwe: Kriminalität in Neubausiedlungen. Das Beispiel Hamburg-Steilshoop. Frankfurt/M. 1985 (Europäische Hochschulschriften, Reihe XXII, Soziologie, Bd. 91), S. 243. Er beruft sich auf einen Artikel von Scheer, Uwe: Das aktuelle Kurzinterview: Rüdiger Dietz – Leiter des Ortsamtes Bramfeld. In: MGS-Informationen, Sept. 1980, S. 11

5 Wahlergebnisse 2001

6 Vgl. z.B.: Bürgerschaft der freien und Hansestadt Hamburg: 9. Wahlperiode. Drucksache 9/3784. 7.10.1981: Antrag der Abg. Dr. Hauke, Ehlers, Frau Kadereit, Dr. Becker, Töpfer (CDU) und Fraktion. Betr.: Neubaugebiet Steilshoop.

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