Skulpturenparkplatz
Das Künstlerviertel Steilshoop ist innerhalb des Stadtteilreigens ein Planquartier mit großer kreativer und Zeithoheit garantierender Zukunft. In beschaulicher Sackgassenlage – eingebettet zwischen Schrebergärten, Friedhof und Bramfelder See – hat es dieser Stadtteil geschafft von großen baulichen Veränderungen verschont zu bleiben. Der letzte bedeutsame Innovationsschub geschah im Gründungsjahr vor mehr als 40 Jahren. Die geplante U-Bahn machte seit damals einen großen Bogen um den entschleunigten Stadtteil und auch die grellbunten Glitzerwelten des raschen Konsums blieben den Bewohnern erspart. So genießen sie bis heute den puristischen Luxus einer zeitsparenden Grundversorgung. Ein Discounter sorgt dafür, dass man stets nur zwischen zwei Produkten wählen muss: preisgünstig und „noch günstiger“. In Steilshoop werden Einkaufsträume für Konsumverweigerer wahr. Ein bescheidener Wochenendeinkauf ist in 8 Minuten möglich.
Was macht nun der Steilshooper mit all der gesparten Zeit? Er flaniert auf dem Boulevard der ausgerissenen Träume, seiner großen Ost-West-Verbindung, prosaisch „Mittelachse“ genannt. Diese, von zahlreichen Wohnungsgesellschaften in jüngster Zeit zur Innovationszone erklärt, macht auch hier die Uhren anders tickend. Landschaftsplaner erkannten den Trend und verhalfen den Bewohnern zu zeitsparender und irritationsfreier Naturerkenntnis: Gras- und Baumbeschau sollten den Eingeborenen hier reichen. Vorbei die Zeit mit rattenfreundlichen Bodendeckern und auch für die üppig blühenden Sträucher mit den klassischerweise sich darin befindlichen Strauchdieben soll nun Schluss sein. Keine unbefugte Daseinsform soll die als Landschaftskunst entwickelte, puristische Ordnung stören. Sanierer und Landschaftsarchitekten waren sich mit RISE-Freunden und HID- Entwicklern einig, dass der Stadtteil gerodet, geordnet, bereinigt und aufgeräumt gehört. Dem pflanzlichen Chaos von Wachstum und Wuchern sollte der Garaus gemacht werden. Nichts Unnötiges darf die betonkantengefasste graue Ästhetik provozieren. Die große Verheißung lautet: Platz sparen, Zeit sparen, Natur sparen und damit die Bewohner beglücken und freistellen für die wahren Dinge. So weit die Innovationsparole. Doch was ist nun zu tun mit dem eingesparten Platz, der eingesparten Zeit und der eingesparten Natur? Richtig! Zeit für Kunst und Selbstbetrachtung! Hier und da am Wegesrand finden sich nun ephemere Skulpturen. Naturinstallationen, die trefflich dazu anregen über das große Thema von Kunst und Religion zu räsonieren: das Ende, der Tod, das finale Basta. Im Zeitalter des Barock erlebte das Vanitas-Stilleben seine Blüte. Und seine Wiederauferstehung auf der Steilshooper Mittelachse. Ein Memento Mori am Hochhauswegesrand, ein „Mensch, bedenke, dass Du sterblich bist“. „Lass alle Eitelkeit fahren“. Eines Tages wirst auch Du verrottet sein, ausgerissen und geknickt. Wozu dann noch jetzt einen Schuhladen im EKZ wollen? So wie der große Sensenmann jeden Grashalm erfasst, so wirst auch Du gemäht werden. Lass gut sein und spar Dir Deine Wünsche. Zahle Deine Miete und begleiche die Nebenkostenabrechnung ohne Nachfrage, mehr Pflichten hast Du hienieden nicht. Frage nicht „Warum?“ oder „Wer sagt das?“ Sondern wandle auf den Dir vorgezeichneten Pfaden. Siehe, Schilder weisen Dir den Weg. Und weiche nicht ab, sonst gerätst Du in den Pfuhl. Nehme Kinder an die Hand und den Hund an die Leine. Gehe am gestreiften Übergang mit der vorschriftsmäßigen Schrittlänge. Wenn Du sitzen musst, dann nur auf einer nassen Holzbank neben einem geruchsbelästigenden signalfarbigem Abfalleimer. Parke Dein Auto wie vorgezeichnet innerhalb der Markierungen, dann geschieht Dir nichts. Vertraue auf HID und die Könige der großen innovativen Ordnung.
Selbst das unverständige Tier respektiert die Hoheitszone der Ordnungsobrigkeit. Seit April brüten im Garten die Amseln, zum vierten Mal hintereinander. Und das zum ersten mal seit 15 Jahren. Wo auch sonst?
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😀 🙂 hm.. super, ich freu mich wie schön du es auf den Punkt bringst.
“Üb’ immer Treu und Redlichkeit
bis an den kühles Grab!
Und weiche keinen Finger breit
von Gottes Wegen ab …”
… so sprach nach Ludwig Hölty der alte Otto Wulff zu seinen Steilshoopern
endlich wieder eine Perle von IKON, für ihre Feder bräuchte sie einen Waffenschein … 😉