Bürgerbeteiligung in der aktuellen Quartiersentwicklung

Überlegungen zu einem bürgernahen Konzept

Stadtteiljubiläum. Luftballons 01Auf Seite 5 des ersten Teils des immer noch gültigen Quartiersentwicklungskonzepts (im Folgenden QEK I, hier als PDF) der Lawaetz-Stiftung für Steilshoop steht ein lakonischer Satz, der aber sehr aussagekräftig für das Verfahren ist: „Im Januar 2009 legte die Lawaetz-Stiftung dem Bezirksamt Wandsbek den ersten Entwurf eines Quartiersentwicklungskonzepts vor“. Brisant ist das Datum: Zwar hat es im Vorjahr im Kontext eines „planing for real“-Verfahren Kontakte mit Steilshoopern und Steilshooperinnen gegeben, es sind an Hand von Modellen Meinungsäußerungen über die künftige Gestaltung des Stadtteils eingeholt worden, aber das alles war (und ist) noch weit entfernt von einer dezidierten Meinungsbildung im Stadtteil. Trotzdem sah man sich zu diesem Zeitpunkt schon in der Lage, ein Papier zu erstellen, welches das Gesicht Steilshoops auf Jahrzehnte hinaus prägen sollte.

Es scheint den Verantwortlichen schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt bewusst gewesen zu sein, dass dieses Vorpreschen nur sehr eingeschränkt mit einem Beteiligungsverfahren, wie es ja zum Beispiel das RISE-Programm einfordert, kompatibel ist. So werden auf S. 8 des Konzeptes eine Reihe von „Bürger- und Akteursbeteiligungen“ aufgeführt, die aber nur partiell etwas mit echter Mitbestimmung zu tun haben. So nett wie auch Aktionen wie „Il canto del mondo“ oder „Buchstart Hamburg“ waren, sie hatten eigentlich den uns gewohnten Charakter. Sie sind, wie auch das Konzept zugibt, initiiert worden: Auswärtige Akteure wurden (gegen entsprechende Honorare) beauftragt, uns Steilshooper zu unterhalten. Dass es dabei auch regelrechte Ärgernisse gab, konnte eigentlich nicht ausbleiben. So sind für den Stadtteil weiland für sicher viel Geld die Geräte für die „Bewegungsbaustelle“ angeschafft worden, die aber anscheinend verschwunden, bzw. für Bürgerinnen und Bürger nicht mehr zugänglich sind.

Auch wenn die Quartiersentwickler sicher nicht den total verunglückten „Workshop zur Perspektive des Bildungszentrums“ zu verantworten haben, so empfinde ich es doch als ausgesprochen mutig (näää, eher peinlich), diesen als Erfolg der „Bürger- und Akteursbeteiligung“ zu verkaufen. Zunächst einmal gingen die paar geladenen Bürger in der Menge der Akteure völlig unter, zum anderen hat man selten so viele hochbezahlte Menschen so viel Unsinn reden gehört.

Von vorne herein war jede freie Diskussion über die Quartiersentwicklung in Steilshoop zum einen mit den Vorgaben der Programmleitzielen von RISE (Lebenswerte Stadt Hamburg, Aktive Stadtteilentwicklung) belastet, mehr aber noch durch die – wie mittlerweile doch offenkundig geworden ist – absurden Erwartungshaltung an das HID (INQ), von der sich auch die Bewohnerschaft zunächst nicht wirklich lösen konnte.

Vor allem beim ersten Punkt stellt sich ein grundsätzliches Problem: Die ökologische Nische des Quartiersentwicklers sind die schlechten sozialen Indikatoren – selbst wenn im Fortlauf des QEK im allerschönsten Soziologendeutsch von „appreciative inquiry“ (in etwa “Wertschätzende Erkundung”) gesprochen wird und somit genau gegenteilige Forderungen erhoben werden. Dadurch verbietet sich auch, den Hebel da an zu setzen, wo die Potenziale eines Stadtteils gelegen sind, sondern man stützt sich ausschließlich auf diese negativen Indikatoren. Das kann so weit gehen, dass die positiven Elemente marginalisiert oder negiert werden. So ist es schon eine erstaunliche Leistung in den über 90 Seiten des Quartiersentwicklungskonzeptes die Koordinierungskonferenz nur drei Mal zu erwähnen: In einer Graphik auf S. 40 QEK I wird sie als Zuarbeiterin des Stadtteilbeirates definiert, auf der folgenden Seite wird fest gestellt, dass sie seit 20 Jahren existiert – diese Aussage ohne irgendeine Andeutung ihrer Tätigkeit.

Stadtteilbeirat versus Koordinierungskonferenz

Der Hintergrund eines derartigen beredtem Schweigen ist offensichtlich: Jeder Quartiersentwickler muss den Beweis antreten, dass er die Potenziale des Bürgerengagements (vgl. QEK I, S. 8) gestärkt hat: Konkret für Steilshoop bedeutet das die Einsetzung eines Stadtteilbeirates.

Man kann an der Struktur der beiden Beteiligungsgremien Koordinierungskonferenz und Stadtteilbeirat exemplarisch darlegen, wie kontraproduktiv, ja destruktiv derartige Vorgaben aus den diversen Entwicklungsprogrammen und deren Umsetzung durch die Quartiersentwicklung sein können. Es ist sicher anerkennenswert, wenn einer vermuteten „schweigenden Mehrheit“ eine Stimme gegeben werden soll, aber der Wunsch nach einer breiten Beteiligung aller Bevölkerungsgruppen wird durch den gleichzeitigen Versuch des Entzuges der Stimme einer (ebenfalls vermuteten) „sprechenden Minderheit“ in sein Gegenteil verkehrt. Gegen Ende des aktuellen Quartiersentwicklungsprozesses stehen wir nun vor der unschönen Situation, dass sich zwei Beteiligungsgremien nahezu ohne nennenswerte Schnittmengen gegenüber stehen, ja dass gelegentlich viel Energie und noch mehr Rhetorik auf irgendwelche Alleinvertretungsansprüche aufgewandt werden. Das QEK hat sich dabei von vorne herein nicht im Geringsten zurück gehalten: Es bezieht seine Legitimation für den Stadtteilbeirat aus dem Beschluss der Einrichtung der Bezirksversammlung, während die Koordinierungskonferenz auf die Steilshooper Traditionen der Basisdemokratie insistiert.

Die immer im Raume stehenden Evaluationen, also die Vergleiche zwischen intendierten und erreichten Zielen zwingt eine Quartiersentwicklung permanent irgendwelche Quoten im Hinterkopf zu haben. Die Idiotie der Statistik fordert zum Beispiel, dass ein Fünftel der Mitglieder des Stadtteilbeirates irgendwie aus dem migrantischen Spektrum kommen muss, weil auch so hoch ihr Bevölkerungsanteil in Steilshoop ist. Durch intensive Mobilisierung ist das auch scheinbar gelungen, denn die beiden letzten Wahlen haben einen deutlich höheren Prozentsatz von Menschen nichtdeutscher Herkunft in den Stadtteilbeirat gebracht, allerdings haben sie dann an den Sitzungen nur in einem sehr geringen Umfang teil genommen. Die Wahl wurde als ein Prestigesymbol angesehen, was wiederum bei den Menschen, die seit Jahrzehnten aktiv in der Stadtteilarbeit aktiv sind, eine erkennbare Verbitterung hinterlassen hat: Ein Trümmerfeld also, das aber in der Evaluation blendend aussieht.

Plakatierung 7.August 09 Sascha KoratkewitschLetztendlich sind die angeführten Punkte der Kritik an Zustandekommen und Zusammensetzung des Stadtteilbeirates nur äußere Symptome einer tiefen Spaltung des Stadtteils. Die Konflikte sind schon 2008 angerissen worden und im Sommer 2015 im Kontext der Auseinandersetzung um den Marktplatz offen zum Ausbruch gekommen. Der Initiative „Kahlschlagstoppen“ wurde deutlich vor Augen geführt, dass die Akteure der Quartiersentwicklung sich nicht als Interessensvertreter der Bürgerinnen und Bürger begreifen, sondern als Vollstrecker bezirklicher Vorgaben. Dem Stadtteilbüro muss Kombattantenstatus in dieser und anderen Auseinandersetzungen zugesprochen werden.

Allerdings ist das mitnichten die Alleinschuld des Stadtteilbüros. Es war durch die Vorgaben der Stadtentwicklung von vorne herein zum Scheitern verurteilt. Das RISE-Programm verlangt ein Organ der Bürgerbeteiligung. Allerdings waren und sind die Projekte hier so angelegt, dass es eigentlich nichts zu beteiligen gab und gibt: Die Steilshooper Erfahrungen lehren, dass das wohl das erste und das letzte HID in der Bunderepublik Deutschland war. Während ein BID, an dem sich ja das HID orientiert, von zwei etwa gleich starken Partnern – öffentliche Hand und Geschäftswelt – gestaltet wird, kommt beim HID ein wesentlich schwächerer Partner, die Bewohnerschaft, hinzu. Wenn man ihm irgendeine Form von Beteiligung hätte zusprechen wollen, dann hätte man ihn mit ganz anderen gesetzlichen Rechten ausstatten müssen, die eben über die Beteiligung hinausgehen. So etwas kann aber niemals im Interesse zum Beispiel einer auf Gewinnmaximierung ausgerichteten privatwirtschaftlich geführten Immobiliengesellschaft sein, die sich ausschließlich Rationalisierungseffekte etwa im Bereich der Pflege erhofft, die wegen der besseren Vermietbarkeit an einem Imagegewinn eines Stadtteils möglichst ohne kostenträchtige Investitionen interessiert ist.

Das HID ein Hit?

Spätestens 2013, als ein großer Grundbesitzer seine ökonomische Macht regelrecht erpresserisch ausspielte, um das einzige bürgerfreundliche Element, den autofreien Schreyerring, zu Fall zu bringen, hätte das HID für gescheitert erklärt werden müssen. Tat man aber nicht, denn zum einen war schon viel zu viel (auch privates) Geld geflossen, zum anderen aber hatte das Ganze den Charakter eines absolutes Prestigeobjektes angenommen, das es auf Biegen und Brechen durch zu setzen galt. Als sich dann seit Februar 2015 zunehmend Widerstand im Stadtteil regte, wurde die Durchsetzung zu einer Frage der Staatsraison.

Die Quartiersentwicklung als bezirkliche Einrichtung hatte nunmehr kaum eine andere Wahl, als sich auf die Seite ihres Auftraggebers zu schlagen und bedingungslos propagandistisch für das Projekt tätig zu werden. Sie musste vor allem die vorgebliche Bürgerbeteiligung verteidigen, obwohl aus den dargelegten Gründen es so etwas gar nicht geben konnte.

Auch das andere große Projekt in Steilshoop entzog sich nahezu jeder Form der Beteiligung. Da der Neubau der Schule und das Quartierszentrum nicht aus RISE finanziert werden, ist auch eine gesetzliche Beteiligung mitnichten erforderlich. Genau genommen war es ein reiner Gnadenakt, dass in der Jury drei Vertreter des Stadtteils ohne Stimmrecht am Katzentisch Platz nehmen durften. Vor allem aber lief die Diskussion über das Projekt etwas mit der Pistole auf der Brust. Schule und hier vor allem der Elternrat haben das Gebäude am Gropiusring für „verbrannt“ erklärt, so dass es zeitweilig so aussah, dass ein Stadtteil mit rund 15.000 Einwohner bald ohne Schule dastehen würden.

Steilshooper VortragstageZugegeben – bei dieser „objektiven“ Lage hatte zunächst keiner den Mut, so richtig für das alte Bildungszentrum sich in die Bresche zu schlagen. Erst als die wahrscheinlichen Verluste – Bühne, Werkräume, Ateliers, Musikräume und vor allem die Stadtteilräume – bewusst wurden, regte sich ein sehr vorsichtiger Widerstand, der eher subversiv daher kam. Die Steilshooper Vortragstage gingen in diese Richtung. Anscheinend ist das auch von den Leuten, die im QEK als Akteure bezeichnet werden, erkannt worden; sie blieben dieser Veranstaltung nahezu demonstrativ fern.

Anders als bei der Mittelachse, wo wenigstens noch der Anschein einer Beteiligung erweckt worden ist, wurden bei Quartierszentrum und Schule die Bürger so gut wie gar nicht gefragt. Ja, es hat zweitweise nennenswerte Verstimmungen gegeben, als sich ausschließlich die Institutionen ohne irgendeine Rücksprache mit den anderen Gremien äußern konnten. Leider ist dieses Problem bis heute nicht vom Tisch. Im Kontext des Quartierszentrums gibt es nach wie vor die Neigung der Sozial-AG vor zu preschen, bevor überhaupt irgendeine Meinungsbildung im Stadtteil möglich war, jüngst geschehen im Zusammenhang mit dem Eingang zur U-Bahn.

Quintessenz: Eine wirkliche Beteiligung hat es in den vergangenen acht Jahren nicht gegeben. Aus den dargelegten Gründen musste sich der Stadtteilbeirat eher auf Marginalien beschränken – und die Koordinierungskonferenz ist in eine Art Dornröschenschlaf gefallen. Viel zu spät ist sie durch kettensägenbewehrte Prinzen erweckt worden. Der Kernfehler, der in beiden Gremien gemacht worden ist, lag in der absolut passiven Haltung, in dem Vertrauen auf die weisen Entscheidungen anderer (Politik, Verwaltung, Wohnungswirtschaft) und der Hoffnung auf die Kongruenz der Interessen. In der Konsequenz haben wir uns zu Objekten degradiert, weil wir nicht in der Lage, zu faul oder zu dumm waren, eigenen Interessen zu formulieren und sie offensiv vor zu tragen.

Beteiligung nach RISE

Eins ist in den vergangenen Jahren in Vergessenheit geraten: Wir können selber denken und meist die Gedanken in Worte und oft auch in Bildern fassen. Prinzipiell aber ist Steilshoop wieder auf den Pfad der Tugend gelangt, indem der Stadtteil daran arbeitet, zum Beispiel im Bereich des ÖPNV oder der Rahmenplanung Nord mit eigenen Ideen an die Öffentlichkeit zu treten. Allerdings tritt hier das klassische Problem auf, woran auch die aktuelle Quartiersentwicklung gescheitert ist. Wenn sich jeweils 30 Leute in Koordinierungskonferenz und Stadtteilbeirat konzeptionell zu Steilshoop äußern, kann man das wohl kaum als ein Meinungsbild des Stadtteils nehmen. Der Stadtteilbeirat hat dieses Problem mit einer als Niederschwelligkeit bezeichneten Taktik zu lösen versucht, den Aktiven in der Koordinierungskonferenz ist nicht mehr als ein resignierendes Kopfschütteln und Schulterzucken eingefallen.

Dennoch ist immer wieder einmal unter Beweis gestellt worden, dass es durchaus Formen gibt, wie man auch den Stadtteil als ganzes mit einbindet: Gut angenommen wurde zum Beispiel das „planing for real“-Verfahren, mit welchem weiland Rixa Gohde-Ahrens und Kirsten Winkler durch die Mittelachse zogen. Noch mehr Menschen konnten durch das Bürgerbegehren zum Engagement bewegt werden. Irgendwelche phänomenalen Plakate, richtig toll gestaltete Internetseiten, selbst bewegende Presseartikel können niemals die persönliche Ansprache ersetzten. Dabei muss die Ansprache nicht in jedem Fall verbal erfolgen, sondern ich denke, dass beispielsweise die Bilder von Mariana Martins auf der Mittelachse eine vergleichbare Funktion haben.

Letztendlich löst sich damit auch das Problem der Nieder- und Hochschwelligkeit. In jedem Kommunikationsmodell stellen sich die Gesprächspartner auf den Verständnishorizont des Gegenübers ein. Natürlich werden bei der Niederlegung, Ausformulierung und Durchsetzung die verbal Erfahreneren eine andere Aufgabe wahrnehmen müssen.

Steilshooper Vortragstage. Plakate 140829Es gibt natürlich einen Haken bei der Kommunikation auf der Straße: Das Ganze macht nur Sinn, wenn eine gewisse Kontinuität gewahrt ist und man dadurch auch Erreichbarkeit demonstriert. Anders herum ausgedrückt: Viel Arbeit, so dass es einen Stamm von Leuten geben muss, der bereit ist, ein bis zwei Mal in der Woche auf den Straßen zu stehen.

Natürlich stellt sich die Frage nach einem Bürgerbüro, wo zu regelmäßigen Zeiten jemand ansprechbar ist, welcher die Anliegen der Bewohnerinnen und Bewohner aufnimmt, sie gremiengerecht formuliert und sie im Stadtteil publik macht. Allerdings bedeutet die Anmietung eines Büros ein finanzielles Engagement, welches nicht aus dem Stadtteil heraus getragen werden kann. Bezirkliche Mittel sind zwar vorstellbar, aber damit liefe man Gefahr, wieder in die aktuelle unerfreuliche Situation herein zu kommen. Es würden wieder Abhängigkeiten entstehen – oder zumindest könnten diese unterstellt werden. Einen Gaststatus in einer der Institutionen verlagert das Problem nur. Auch die immer wieder aufkommende Forderung nach einem „Geschäftsführer“ der Koordinierungskonferenz, der bezahlt wird oder wenigstens eine Aufwandsentschädigung bekommt, ist aus den gleichen Gründen ab zu lehnen.

Ich kann mir vorstellen, dass der Stadtteilbeirat nicht wenige der engagierten Steilshooperinnen und Steilshooper durch die sehr intensive, zum Teil auch exzessive Behandlung von Partikularinteressen regelrecht vertrieben hat. So wäre es meines Erachtens möglich gewesen, das Phänomen „Frauenschwimmen“ durch direkte Kontaktaufnahme der Protagonistinnen mit „Bäderland“ zu einem Ergebnis zu bringen. Einen derartigen Kardinalfehler muss die Leitung eines künftigen Beteiligungsgremiums unter allen Umständen vermeiden. Debatten sind nur dann reizvoll, wenn es auch tatsächlich um Themen geht, die prinzipiell für alle Steilshooper interessant sind und Bewohnerinnen und Bewohner betreffen.

Inhalte und Themen

Letztendlich läuft das auf die Forderung hinaus, die konzeptionelle Arbeit in den Vordergrund zu stellen. In Steilshoop gibt es noch mindestens zwei Projekte, welche sich in einem Stadium befinden, in dem Einflussnahme des Bürgers noch möglich und wünschenswert erscheint: U-Bahn (als ein Teil des ÖPNV) und Rahmenplanung Nord. Von der Koordinierungskonferenz sind zu beiden Komplexen erste Ideen entwickelt worden, die aber noch einer weiteren Behandlung bedürfen.

Die Art der Behandlung dieser beiden Themen ist zwar schon als ein Fortschritt gegenüber der Vergangenheit zu werten, indem man darauf verzichtet hat, ausschließlich in den durch Politik und Verwaltung gesetzten Grenzen zu diskutieren, aber in letzter Konsequenz handelt es sich auch nur um ein Reagieren auf vorgegebene Fakten. Die Bebauung des Nordgeländes war zu keinem Zeitpunkt eine Herzenswuschen der Bewohnerinnen und Bewohner des Stadtteils. Man musste aus der Not eine Tugend machen.

Stadtteiljubiläum. Luftballons 02Wenn man aber ein lebenswertes Steilshoop entwickeln will, so muss man auch dann sprechen, wenn man einmal nicht gefragt ist. Man kann es als feststehende Tatsache behandeln, dass die Politik mit der Phantasie nicht gerade ein Liebesverhältnis eingegangen ist und dass selbige sich lieber an den Realitäten, also an Haushalten, an Förderprogrammen oder an Wahlterminen orientiert. Man bleibt am liebsten bei den mehr oder minder bewährten Formen des Denkens und betritt nur auf erheblichen Druck Neuland. Genau den Druck müssen die Steilshooperinnen und Steilshooper ausüben, indem sie dem hier hoch verehrten Herrn Altbundeskanzler zum Trotze durchaus in visionäre und utopische Berteiche vordringen. Bürgerbeteiligung muss endlich sich davon frei machen, in der Auswahl der Pflastersteine ihre Bestätigung zu sehen, sondern sich mit den substanziellen Dingen beschäftigen.

Für Steilshoop bedeutet das, dass man nach fast fünfzig Jahren seiner Existenz endlich ein komplettes Gemeinwesen wird, das heißt, dass die Einheit von Leben, Wohnen und Arbeiten verwirklicht wird. So verdienstvoll die Forderungen der Charta der Athen, die genau diese Einheit aufgehoben hat, im Zeitalter der Frühindustrialisierung war, umso problematischer sind heute ihre Auswirkungen in Bezug auf das soziale Miteinander. Steilshoop als eine der letzten entstandenen Großsiedlungen in der alten Bundesrepublik ist zwar längst nicht so „unwirtlich“ (Alexander Mitscherlich) wie viele ihrer Vorgängeranlagen, mittlerweile jedoch mit den gleichen Problemen belastet. Es gibt keine kommerzielle Infrastruktur, große Teile der Siedlung sind vom sozialen Verfall bedroht, die Möglichkeiten der Freizeitgestaltung tendieren gegen Null.

Fürwahr, keine wirklich neue Erkenntnis – und man versucht auch seit mindestens dreißig Jahren diese Probleme zu lösen. Dabei hielt sich die Phantasie doch in sehr engen Grenzen. Mit unterschiedlichen Nuancierungen hat man immer wieder zwei Wege betreten: Der eine beruhte auf manpower. Je mehr Sozialarbeiter, je mehr Beratung in allen Lebenslagen desto besser: Leider ist kaum eines dieser vielen Projekte jemals richtig evaluiert worden, vor allem unter dem Aspekt, wie weit sich Menschen selbst entmündigt haben durch die ständige Hilfeleistung und Bereitstellung von Angeboten. Maß aller Dinge ist in der Regel nur die schiere Menge der durchgeführten Beratungsgespräche. Es ist auch nicht klar, wie weit der zweite Weg, nämlich die exzessive Nutzung der jeweiligen arbeitsmarktpolitischen Instrumente sich im Sinne einer Nachhaltigkeit auswirkt. Zum einen ist durch den ständigen Wandel eine kontinuierliche Entwicklung undenkbar, zum anderen hat die Bereitstellung extrem günstiger Angebote viele Menschen auch dem Marktangebot, wenn man so will der Realität entfremdet. Das hat zum Beispiel im Kulturbereich dazu geführt, dass selbst geringe Kostenbeiträge – wenn überhaupt – nur unter großem Murren gezahlt werden.

Bei beiden Wegen ist der Akteur (das Subjekt) die- oder derjenige, welche oder welcher um 17:00 Uhr den Stadtteil verlässt. Obwohl sicher viele dieser Menschen Großartiges für den Stadtteil vollbracht und vor allem sehr viel Kraft für ein lebenswertes Steilshoop geopfert haben; letztendlich haben auch sie einen Beitrag zur Entmündigung des Menschen hier vor Ort geleistet. Wohlmeinende weiße Entwicklungshelfer, die aber dennoch postkolonialistisch tätig sind.

Hier ist auch der Hebel an zu setzen, nämlich, dass der Steilshooper grundsätzlich auch sein Leben in die eigene Hand nimmt – und hier schließt sich auch der Kreis. Warum gibt es hier so viel HARTZ-IV-Beratung, aber warum gibt es keinen Gesprächskreis von HARTZ-IV-Empfängern? Sind nicht cleane Abhängige die besten Drogenberater? Warum kann die sparsame Hausfrau nicht ihrer Nachbarin, welche am 20.eines jeden Monats ihren Kindern nur noch Nudeln mit Ketchup anbieten kann, bei der Wirtschaftsführung helfen? Natürlich sind all diese Fragen rhetorisch. Ein riesiger Schuldenberg ist einfach etwas Feines – nämlich für die Schuldnerberatungsindustrie, eine Selbsthilfegruppe kann wunderbar einen Drogenberater ersetzen …

Beteiligung bedeutet Verantwortung zu übernehmen, aber viel zu viele Menschen hier müssen erst wieder lernen, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Verantwortung bedeutet aber Solidarität und nicht lautes Blöken nach irgendeiner wohltätigen Beratung. An diesen „weichen“ Themen wird jedes Beteiligungsgremium nach RISE arbeiten müssen!

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2 Kommentare

  • MFM

    1000 Dank für diese so treffende und deutliche, auf den Punkt gebrachte Zusammenfassung der letzten Jahre und deren Problematik.
    Du bist einer von denen, die sich immer und ständig für den Stadtteil einsetzen.
    Der dafür nicht immer so gewürdigt worden ist, wie es hätte sein müssen.
    Das du ohne Bezahlung, in einer unbezahlbaren Form gegeben hast.
    Ich habe viel von dir gelernt und lerne jeden Tag mehr dazu, selbständig zu denken und zu handeln.

    Ich hoffe das viele sich die Zeit nehmen diese Zeilen von dir zu lesen und dabei erkennen wie wichtig es ist aktiv zu sein und aktiv werden. Von Herzen noch einmal DANKE

  • Konrad

    Lieber Martin, wow es hat mich umgehauen, wie klar im Rückblick ein so stark
    involvierter Mensch wie Du zu solchen “Ergebnissen” kommt. Für viele
    Sachverhalte, die ich nie so ganz durchdrungen habe, fand ich nun eine passende
    Erklärung. Das kommt wohl daher, dass die Struktur der nur vordergründigen
    Mitbestimmung immer zu gleichen Resultaten -nämlich keinen- führen soll. Doch kommt
    jede Stadtentwicklungsmaßnahme immer in anderen Kleidern und mit anderen
    Moderatoren und Beglückern daher, so daß ein wohlgesonnener Mensch sich davon
    blenden und verwirren lässt. Aus Dir spricht nicht nur grosse Fachkenntniss vor
    Ort und “Programmkunde” aller jeweiliger Broschüren; Du hast auch alle
    Protagonisten gut kennengelernt. Diesen unglaublichen Zeitaufwand kann ein fachfremder Bewohner kaum leisten.
    Wie traurig, daß das Engagement so vieler Steilshooper sie so selten dem “positiven
    Mitgestalten” näherbrachte. Immer wieder scheint man nur die schrecklichen
    aufgestülpten Planungen aufhalten zu müssen, die andere, insbesondere Lobbyisten, für diesen Stadtteil verfügen. Deren Vorzüge scheinen zu oft nur Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für Beratungs-und Bau- und Abrißindustrien zu sein.
    Vielen Dank für diesen so tiefsinnigen und fein geschriebenen Artikel.