Adorno in Steilshoop

Theodor W. Adornos vielzitierte Sentenz: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ ist auch dort leider richtig, wo es ganz eindeutig „ein bißchen Richtiges im Falschen“ gibt. Konkret sind hier die Maßnahmen des Beschäftigungsträgers Alraune in Steilshoop gemeint. Keine andere Institution hat sich hier so über Jahre abgemüht, spezialisiert, integriert, qualifiziert und organisiert wie Alraune mit seinen zahlreichen Ausbildungsstätten, den Cafés, Werkstätten, Tierhaus und Sozialprojekten. So weit, so richtig. Falsch, aber unabänderlich hingegen war, sich in die Fördertopflabyrinthe einer staatlich gelenkten Arbeitsmarktpolitik begeben haben zu müssen. Richtig war es, sich in Steilshoop breit aufzustellen, flexibel und schnell reagieren zu können. Und im Stadtteil verankert zu bleiben, wo ihre Kunden leben und sich ausbilden können. Der Unterschied zu allen anderen dahergelaufenen und wieder davongerannten Betreuungsinstitutionen, die von armen Stadtteilen als Arbeitsplatzbeschaffer magisch angezogen werden: stets blieb Alraune Aug‘ in Aug‘ mit ihrem Klientel und zum Wohle aller Menschen im Quartier.

Durch die hartnäckige Verortung im Stadtteil ist Alraune das gelungen, was allen anderen versagt blieb, nämlich langfristige Erfolge ihrer Schützlinge nachzuweisen und eine lebendige Zusammenführung von Auszubildenden und Stadtteil zu erreichen. Ob günstige Gastronomie für alle, Verkehrsübungsplatz für Schulklassen, ob Fahrradwerkstatt, Anlaufstelle für Kümmernisse, Info von Polizei oder Plakatierern – das JETZT ist eine Institution im Stadtteil im besten Sinne des Wortes und steht für Glaubwürdigkeit und Loyalität. Dass der Beschäftigungsträger dabei in der Logik der arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen mal Fördergelder bekam, mal Drohungen von Kürzung und jetzt gar Schließung, ist dem „ganz und gar Falschen“ geschuldet. Keine Institution, die als Ausbildungsträger Rücksicht auf die Dispositionen der Azubis, jetzt Tagwerker nimmt, kann ohne Sicherheiten und Kontinuitäten nachhaltig Erfolg haben. 

Als Ausbildungsträger braucht man Büros, Werkstätten, Arbeitsräume, Produktionsmittel, materielle und logistische Infrastruktur und vor allem Planungssicherheit. Vor der Wahl gibt es Geld und Versprechen, danach Gestammel und Zuckungen. Die städtischen arbeitsmarktpolitischen Sprecher erklären bedauernd und achselzuckend it was nice but now its over. Dieser Zynismus beginnt, wo man sich auf die Unsäglichkeit der Armenverwaltung einlässt. Problembehaftete Menschen sind nicht nur arbeitsmarktpolitische Verschiebmasse, die man wie einen unverdaulichen Bissen von einem Tellerrand zum nächsten schiebt. Alraune hat sich dieser Sichtweise auch nicht angeschlossen, jetzt geht es ihnen selber an den Kragen.

Langfristige Projekte, dauerhafte Ansprechpartner, gute Vernetzung im Stadtteil und ein Unterstützerumfeld, welches nicht betrieblich involviert ist, zieht Kreise, die weit über die Untertanhaftigkeit der anderen Träger hinausgehen. Nicht nur, dass Alraune ihrem Klientel stets treu und redlich zur Seite stand, -dies ist seiner kämpferischen Geschäftsführerin und dem charismatischen Leiter des JETZT zu verdanken- es ist auch der umgekehrte Fall eingetreten. Die Ausbildungs- und Förderklienten haben sich durch Weiterbildung emanzipiert, im Café und Gastronomiebetrieb andere Menschen und andere Renitenzen kennengelernt. Arbeitsalltag und die daraus resultierende Achtung verbinden. Inklusiver Mittagstisch, Familienfeiern und Trauerereignisse, Wahlnächte, Kindersorgen, und ein regelmäßiges anspruchsvolles Kulturprogramm (Ausstellungen, Vorträge und Musik) verbinden Arme und unwesentlich Reichere. Auch das erfolgreiche Bürgerbegehren „Kahlschlag stoppen“ hat hier seine Keimzelle. Hier haben Gestrauchelte mit Hoffnung auf eine erfolgreich abgeschlossene Ausbildung und etwas bessergestellte Stadtteilbewohner Kontakt, Gespräche und Einflussnahme aufeinander. Es begegnen sich Menschen mit und ohne Handy, unterschiedliche Nationalitäten, Altersgruppen und verschiedene Anschauungen regelmäßig. Hier liegen Unterschriftenlisten aus, hier trifft sich die Mietergruppe, die Single-Senioren und der Schachklub, hier feiern junge Türken ihren 18. Geburtstag, hier spielen baumlange Basketballer nachts in Jetonintervallen ihre Turniere, hier rollt die Rollatorenkolonne der Alsterdorfer zum Mittagstisch ein. Das JETZT ist im Stadtteil die Institution der Glaubwürdigkeit durch einträchtige Verschiedenheit. So liegt es auf der Hand, dass das Mobilisierungspotential Legionscharakter hätte. Doch: was für all diese Menschen urbane Heimat und ein reicher Sozialkosmos ist und das, um bei Adorno zu bleiben: bei den Schwierigkeiten, sich in modernen Zeiten irgendwo häuslich einzurichten, bedeutet für diejenigen, welche den Stadtteil langfristig in ganz neue Bahnen lenken wollen, eine ungewollte Fraternisierung. Sie erkennen darin den Supergau und größtmöglichen Unfall. Deutlich zeichnen sich für den Stadtteil Tendenzen ab: hier soll in Zukunft enger und dichter bebaut werden, die Mieten sollen steigen, große Interessen prägen den öffentlichen Raum in bester Lage: städtischer Grund soll privatisiert werden. Der Bezirk sieht Steilshoops Heil in HIT und RISE. Schon die kryptische Wortwahl ist Programm. Die Wohnungsgesellschaften sind die bevorzugten und in Wirklichkeit einzigen „integrierten“ Gesprächspartner für die Bezirkspolitiker, die ihre Moderatorenphalanx auf den Stadtteil gehetzt haben. Diese bemühen sich nach Kräften alle bürgerliche Teilhabe an sich zu reißen und kritische Fragen im Keim zu ersticken. Alberne Gruppenfotos auf denen suggerierte Teilhabe und Toleranz durch religiös inspirierte Kleidervorlieben dokumentiert werden soll, runden das Werbeprogramm ab. Eine lachhafte Bürgerbeschäftigungsveranstaltung mit einer absurden Wahlgroteske verbunden, wird vom Bezirk zur „demokratischen Bürgerbeteiligung“ erklärt – ein Witz! Alle öffentlichen Treffpunkte werden seit Jahren abgerissen und abgetragen und stets bevor das Neue steht. Will man den Moderatorenbeirat predigen hören, muss man von Kirche zu Kirche ziehen. Sie sind die letzten Verbündeten der bezirklichen Maßnahmen. Bezeichnenderweise soll dieser Zirkus auch weiterhin bezahlt werden. Hochglanzbroschüren mit lachenden Gesichtern sollen die Realität des arbeitsmarktpolitischen Offenbarungseides im Stadtteil übertünchen. Obwohl viele Bewohner die Auflegung eines sinnlosen Programms nach dem anderen in Abrede stellen, allen voran den RISE-Stadtteilbeirat der Lawaetzstiftung, soll diese Show und Mitmachfalle auch genannt der „Gummibärchenplausch“ weitergehen. Die Orte an denen man sich hier gemeinschaftlich treffen kann und von unterschiedlichen Lebensrealitäten erfährt, ohne gleich von religiösen Obsessionen belästigt zu werden, sind rar gesät: das Café und das JETZT gehören dazu. Es sind Treffpunkte von Akteuren des Stadtteils, deren ehrenamtliche Aktivitäten sich in keinem Glanzpapier niederschlagen sollen. Man muß kein Wettermann sein um zu verstehen, woher der Wind weht, wenn es heißt, dass diese Maßnahmen nicht mehr gefördert werden sollen. Abreißen, ersetzen, Förderung einstellen, atomisieren und neu mischen ist die Devise. Alraunes Verlängerung wird offensichtlich am gefälligen Wohlverhalten d.h. an leidenschaftsloser Distanz zum Quartier gemessen.

Erst wenn die Aktiven des Stadtteils keine Treffpunkte mehr haben, kann hier ohne Gegenwehr nach Gutdünken reguliert und gentrifiziert werden.

Theodor W. Adornos eingangs zitierter Satz lautete in einer ursprünglichen Textfassung übrigens „Es lässt sich privat nicht mehr richtig leben“

Ikon

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